Humanismus-Forschung:
Schon im Begriff liegt viel Utopie

also reale Grundlage und zugleich Wunschtraum, Analyse und Idealbild gesellschaftlicher Verhältnisse, meint der Kulturwissenschaftler Horst Groschopp.

Auf den Erfinder des Wortes „Utopia“, den Humanisten Thomas Morus (1516) bezogen, betont der Mitherausgeber den breiten Ansatz des „Handbuches“ zwischen Theorie und Praxis, Aktualität und Historie, Ideen und „Bewegungen“. Er hofft auf streitbare Debatten über neue humanistische Sichtweisen in diesem Kompendium.

An wen richtet sich das Buch, für wen sind die Texte zu den 44 Artikeln geschrieben worden?

Horst Groschopp: Wenn der Preis nicht für normale Einkommensverhältnisse so exorbitant hoch wäre, würde ich sagen: Adressaten sind alle am Humanismus Interessierten, die zur Aktualität und Geschichte dieser Idee und Bewegung ein Bildungsbedürfnis haben, die mehr – vor allem wissenschaftlich Durchdachtes – wissen möchten, als landläufig darüber und bisher zu finden ist. Vor allem verweise ich auf die umfangreichen und weiterführenden Literaturhinweise hinter jedem Lemma.

Welche Aktualitätsbezüge hat der Band?

Es ist ja gerade viel Antihumanismus – auch ein Stichwort – im Aufschwung. Da kann das Buch auf eine andere historische Richtung hinweisen, die Ursprünge humanistischer Gedanken zeigen und belegen, wie breit Humanismus angelegt ist, wie lang bereits das Bemühen um Humanisierungen zurückreicht und was das eigentlich heißt. Da nun sogar der aktuelle Papst den Humanismus für sich und seine Kirche reklamiert, ist im Buch erkennbar gemacht, wo da gewisse konzeptionelle Grenzen, aber auch Berührungen liegen. Humanismus ist kein antireligiöses oder kirchengegnerisches Projekt. Für alle, die das noch nicht wussten: Barmherzigkeit ist ein Teil der Bedeutung von „humanitas“ und als Kern der „Humanität“ das Buch leitend.

Der Band enthält zwar die Begriffe „Religionsfreiheit“ und „Religionskritik“, doch hat „Religion“ keinen eigenen Eintrag, wie überhaupt wenig von ihr die Rede ist. Wird das als Kontrastfolie nicht mehr benötigt?

Das Buch behandelt Grundbegriffe des Humanismus. Religion ist da kein Grundbegriff, auch wenn die „säkulare Szene“ in bestimmter freidenkerischer Erbfolge das nach wie vor annimmt. In dieser „säkularen Szene“ ist Humanismus eine Art „Ersatzreligion“, also – wenn überhaupt – nur ein „Teilhumanismus“.

Warum und wie das nach 1990 so gekommen ist, und warum der „säkulare Humanismus“ eine historische Denkschablone darstellt, beschreibe ich in meinem neuen Buch „Pro Humanismus“, das, wenn alles gut geht, zeitnah im Alibri Verlag erscheint. Das wird dann auch etwas billiger und ist polemischer als ein „Handbuch“ sein darf.

Auffällig ist, dass wichtige Begriffe zu fehlen scheinen. „Frieden“ oder Begriffe aus der Ethik, etwa „Verantwortung“, oder der Ästhetik, beispielsweise „Erzählen“, hätte man doch auch in einem solchen Handbuch erwartet.

Wir haben uns viel Mühe gegeben – die Humanistische Akademie hat vorher dazu auch mehrere Tagungen und einige Bände der „Schriftenreihe“ gemacht –, unter der Vielzahl von Phänomenen und Begriffen, die sich auf Humanismus beziehen und die etwas mit Humanismus zu tun haben, diejenigen zu extrapolieren, die grundlegend sind und die – das ist bei so einem Projekt keine Nebensache – von den Herausgebern und Autoren bearbeitet und verantwortet werden können. Das ist logischerweise eine Auswahl, die außerdem durch die zur Verfügung stehende Seitenzahl (100 für jeden „Bereich“) und Autorenbereitschaft zur Straffung zwingt.

So ging das Wortpaar „Reichtum/Armut“ verloren, weil dazu gegenwärtig im Humanismus nur wenig gesagt werden kann. Anderswo hat das Leben selbst Regie geführt. So wurde aus „Sexualität“ schließlich „Gender“. Doch wer schreibt das auf die Schnelle? Ergebnis: dieses wichtige Feld fehlt, eigentlich unverzeihlich, schon weil Humanismus eine Sache weißer, männlicher, etwas älterer Männer zu sein scheint. Auch „Geschmack“ fiel weg und mit beiden Begriffen – Sexualität und Geschmack – große Bereiche der „Körperlichkeit“, um zu verdeutlichen: Humanismus ist keine Philosophie, jedenfalls nicht vor allem.

Hier ist unbedingt zu erwähnen, dass bis vor Toresschluss ein umfangreicher Bildteil geplant war, eine Art Anfang zu einer Ikonographie des Humanismus. Das ließ sich nicht realisieren – und hätte dann wohl auch den Band noch teurer gemacht.

Zu den von Ihnen genannten Begriffen: „Frieden“ kann der Humanismus nicht für sich reklamieren. Außerdem ist die Haltung zum Pazifismus schwierig. Und: Man kann auch durch Krieg „Frieden machen“. Es gibt beim „Frieden“ viele Zugänge und Bedeutungen. Doch was sind die humanistischen Linien?

Für „Verantwortung“ gilt Ähnliches. Sie kommt aber in „Solidarität“ zur Sprache sowie im systematischen Teil bei „Humanitarismus“. Letzterer ist ein Begriff, den Heinz-Bernhard Wohlfarth nach Deutschland, in den hiesigen Humanismus und in den Band einführt.

„Erzählen“ ist ebenfalls schwierig zu fassen. Hier wäre zu beachten, ob es Humanismus nur in Schriftkulturen gibt oder auch in Erzählkulturen, einschließlich, was man sich so über Humanismus erzählt. Da wäre einige Soziologie nötig, auch Ethnologie. Auch ginge es hier um die Frage, ob Humanismus eine „Menschheitserzählung“ ist. Was wäre dafür der Beweis – außer unser „Handbuch“.

Anderseits ist die Auswahl des Begriffs „Seelsorge“ durchaus erstaunlich.

Gerade dieser Begriff gibt einen Einblick in „neues Denken“ über Humanismus in diesem Buch. Gita Neumann vom Humanistischen Verband hatte schon 1990 gefordert, diesen und andere Begriffe nicht den Theologen zu überlassen. Es überwog aber die freidenkerische Altlast der „säkularen Szene“. Da gibt es keine „Seele“, basta. Ähnlich erging es Joachim Kahl im Jahr 2000 mit seinem Vorstoß in Richtung „Spiritualität“. Ich erinnere mich noch gut an schräge Blicke in der „Szene“ als es um „Barmherzigkeit“ ging.

Sie selbst sind der Verfasser des Lemmas „Seelsorge“ und können nachvollziehen, wie wir von dem unsäglichen aktuellen Begriff der „humanistischen Beratung“ abrückten und über den historischen der „weltlichen Seelsorge“ in den Berliner und Wiener „Humanistengemeinden“ um 1900 schließlich zu „Seelsorge“ als einem humanistischen Grundbegriff kamen. Hilfreich war hier der gedankliche Rekurs auf die Antike und ein umfassendes Verständnis von „Humanitärer Praxis“, worin sich „Seelsorge“ verortet. Mal sehen, was unsere streng rationalistischen „Naturalisten“ sagen.

Wer sind die Autoren der Begriffe, nach welchen Gesichtspunkten sind sie ausgewählt worden?

Die Autoren wurden von den Herausgebern nach Absprache untereinander und persönlicher Kenntnis von deren „Werk“ gesucht nach bestem Wissen, jeder Herausgeber für seinen Bereich. Man darf auch nicht vergessen, dass jeder Artikel enorme Arbeit macht und man – außer möglicher Berühmtheit – lediglich ein Freiexemplar bekommt und weitere zu 50 Prozent ermäßigt kaufen kann, das sind immerhin noch etwa 75 Euro plus Lieferkosten je Exemplar.

Sie waren zuständig für Begriffe mit Bezug zum praktischen Humanismus. Wie sehen Sie heute das Verhältnis von Grundlagenforschung und praktischem Humanismus?

Das hat sich so ergeben, eigentlich geht es um Humanismus als Kultur und das ist ja auch, wie Menschen leben. Eine Antwort auf Ihre Frage hängt davon ab, was man unter „Grundlagenforschung“ und „praktischem Humanismus“ versteht. Zu ersterem gibt es in den letzten Jahren einiges Erfreuliches, aber alles weitgehend als „Privatvergnügen“ – ohne ordentliche universitäre Anbindung – der Forscher, übrigens meist Männer, und – das große Projekt von Jörn Rüsen über „Internationalen Humanismus“ einmal ausgenommen – ohne nennenswerte private, gar öffentliche Zuschüsse. Das Buch ist ein Beleg dafür. Nach wie vor sind hier Staat und Gesellschaft Schuldner. Humanismus so zu vernachlässigen, befördert das Gegenteil.

Und was den „praktischen Humanismus“ betrifft, so stellt das Buch klar, dass es ohne Humanität keinen Humanismus gibt; dass das Praktische sich nicht erschöpft in dem, was etwa der HVD dankenswerterweise anbietet. Das findet sich auch im „Sozialstaat“, in der „Liebe“ und in der „Mediation“, siehe die Lemmata von Thomas Heinrichs.

Was meinen Teil bei der Klärung betrifft, so denke ich, sowohl die Artikel „Humanitäre Praxis“ wie „Humanismus-Unterricht“ – inklusive „Lebenskunde“ – verabschieden sich von der Illusion einer Beschränkung auf „säkulare Anbieter“, stehen in Distanz zum „säkularen Humanismus“. In diesem Zusammenhang wird der Begriff „Säkularisierung“, wie er im Buch vom Kollegen Walter Jaeschke stringent und deshalb provokativ vorgetragen wird, sicher bei einigen „Säkularisten“ ein gewisses Unwirschsein erregen.

Es gab Irritationen bezüglich des recht hohen Preises des Bandes. Können Sie etwas dazu sagen?

Die Herausgeber haben mit dem Preis nichts zu tun und ziehen daraus keinen materiellen Vorteil, auch nicht die Autoren. Es war sogar ein erheblicher Druckkostenzuschuss zu entrichten. Das Projekt war ursprünglich beim (vormaligen DDR-) Akademie-Verlag angesiedelt, der nach Vertragsabschluss, der war immerhin schon im Sommer 2012 (!), von De Gruyter übernommen wurde und wir mit ihm.

Der Verlag verkauft im Wesentlichen erfolgreich international an wissenschaftliche Bibliotheken. Seine Preise sind auch bei anderen Sachen weder „volkstümlich“ noch mit einem der „Volksaufklärung“, gar dem „Volkshumanismus“ dienenden Preisnachlass versehen. Der Verlag arbeitet sehr professionell, und dafür sind wir dankbar. Der Verlag arbeitet aber eben auch profitabel. Er hat keinen öffentlich bezuschussten Bildungsauftrag, gar der „Humanismus-Pflege“. Das mag alles bedauerlich sein, aber die Verhältnisse sind so wie sie sind. Vielleicht kann man das nur mit einer sarkastischen Pointe „verdauen“: Humanismus ist überhaupt eine teure Angelegenheit.

Welches sind nach ihrer Ansicht die wesentlichen, zukünftigen Fragen oder Forschungsaufgaben der Humanismus-Forschung?

Humanismus-Forschung: Schon im Begriff steckt viel Utopie. Da Humanismus ein „weites Feld“ ist und das Allermeiste unerforscht, die Zahl der Forscher gering und ein Lehrstuhl in weiter Ferne, muss man sagen, dass jedes Studium am Humanismus, egal welches Thema, ein großer Beitrag und nicht hoch genug zu würdigen ist.

Viel wichtiger ist aber die Frage, wie das, was da erforscht und publiziert ist, diejenigen erreicht, die daran Interesse haben, mehr noch: Interesse haben sollten, da ihr Verein „Humanismus“ im Namen hat. Da reicht es nicht, zu denken, dass dies oder jenes schon deshalb „humanistisch“ ist, weil eine humanistische Organisation das macht. Da sind wir bei den Aufgaben einer „Humanistischen Akademie“ – aber das ist ein anderes Thema.

Die Fragen stellte Ralf Schöppner.

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